George Segal

George Segal entwickelte in den 1960er-Jahren, enttäuscht von den Möglichkeiten der Malerei, eine neuartige Bildsprache, indem er in Gips abgeformte und gegossene menschliche – meist lebensgroße – Figuren herstellt. Sie verbleiben in ihrem weißen Farbton ohne individualisiert zu werden, so dass sich Abstraktion und Figuration verbinden. Der Gips dient nicht – wie im künstlerischen Prozess häufig der Fall – als Form: Die nach seinen Modellen gegossenen Schalen bilden die Skulptur. Seine Environments und Settings zeigen alltägliche Situation wie einen Gast an der Wirtshaustheke, ein Liebespaar im Treppenhaus, einen Busfahrer am Steuer, eine Rock ʼnʼ Roll-Combo, Frauen beim Ringelreihen und bei der Toilette, seinen Kunsthändler Sidney Janis mit einem echten Mondrian-Gemälde oder Lot beim Inzest mit seinen biblischen Töchtern. Segal geht es allgemein um Fragen des Individums in der Gesellschaft, um Anonymität und die menschliche Existenz. 

„Was das Entstehen meiner Gipsfiguren betrifft, kann ich sagen, daß etwas Geheimnisvolles stattfindet, das ich nie erwartet hätte. Jedesmal ist es anders. Der einfache Vorgang, jemanden eine Stellung einnehmen zu lassen, ihn mit gipsgetränkten Bandagen einzuwickeln und ausharren zu lassen, bis sich der Gips härtet, zeitigt überraschende Nebenresultate. […] Die Versuchpersonen befinden sich in einer derart unbehaglichen Lage, daß sie sich vor mir nicht verstellen können.“1

 George Segals Skulpturen sind mehr als mechanisch erzeugte Wirklichkeitsfaksimiles. Ausgehend von der Idee einer bestimmten Pose seines Modells, nimmt er oft auch am noch flexiblen Abdruck Veränderungen vor. Im folgenden Schritt überarbeitet er die gesamte Oberfläche. Dieses Vorgehen führt im Ergebnis zu seiner einzigartigen Oberflächenbeschaffenheit, wie z. B. der Kontrast zwischen Abdrücken von Schnittstellen und Bandagenstrukturen und -rändern neben fein polierten Körperteilen in abstrahierendem Marmorweiß. Assoziationen zu Skulpturen der klassischen Antike und der Renaissance werden geweckt. 

Sein zunehmendes Interesse an Raum- und Lichtverhältnissen, also Fragen der Komposition und der Wahrnehmung, führten Segal zur Kombination seiner Figuren mit realen Alltagsgegenständen wie Stühlen, Bänken und anderen Möbeln, zur Gruppierung mehrerer Figuren oder ihrer Platzierung in zumeist nur fragmentarischen Raumsituationen. Damit leistete Segal einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung des Environments als bedeutender Neuerung der Plastik der Nachkriegsmoderne.

Anke Hervol

 

1 George Segal, 1967, zit. nach: Brigitte Reinhardt (Hg.), Stiftung Sammlung Kurt Fried, Internationale Kunst der 1950er bis 1980er Jahre, Ulmer Museum, Ulm 1999, S. 101.

 

In der Ausstellung:

George Segal
Sleeping Woman, 1970
Gips auf Leinen, Plexiglasdeckel, Holzkasten 
17,5 × 39 × 28 cm
Museum Ulm

 

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