Jochen Gerz

© Foto: Inge Zimmermann 2012

„[Er führt] das, womit er umgeht, die Sprache, das Wort und in logischer Konsequenz das Bild, auf das zurück, was sie sind. ,Weiss‘ setzt sich aus Buchstaben zusammen: Formzeichen. Weiss in seiner Bedeutung wird nur erfaßbar durch sein Gegenteil: Schwarz als Bild. Form gewinnt Bedeutung erst im Kontext auf der Fläche in Bezug zu anderen Formen, Zeichen und Bildern, nicht durch sich selbst. Sie bleiben, was sie dinglich sind: tote Form. Sie nehmen Inhalte an erst durch den, der sie sieht. Darin schließt Jochen Gerz die Funktion, die er selbst ausübt, mit ein. Es geht ihm nicht darum, den Denkprozeß darzustellen, dem sich eine Arbeit verdankt, sondern den Betrachter zu eigener Erfahrung, selbstandigem Denken zu motivieren.“1

Jochen Gerz arbeitet seit dem Ende der 1960er-Jahre mit neuen Medien (mehrere Documenta-Beiträge, Teilnahme 1976 mit Beuys und Ruthenbeck an der 37. Biennale von Venedig im deutschen Pavillon, zahlreiche Gruppen- und Einzelausstellungen und Retrospektiven in deutschen, europäischen und nordamerikanischen Museen). Seit Mitte der 1980er-Jahre arbeitet er im öffentlichen Raum an gesellschaftlichen Prozessen. Im Zentrum dieser Arbeit steht die Öffentlichkeit selbst, ohne deren Teilnahme seine Kunst nicht mehr entstehen kann. Gerz nennt das kreative Potenzial von Menschen, das nicht nur den individuellen Alltag, die Arbeit und Entwicklung des Einzelnen bewegt, sondern das ganze gesellschaftliche Zusammenspiel zum Ziel hat, „öffentliche Autorschaft“. Seine öffentlichen Arbeiten zur Erinnerung wie Hamburgs Mahnmal gegen Faschismus (1986) und 2146 Steine – Mahnmal gegen Rassismus / Das unsichtbare Mahnmal in Saarbrücken (1993), Das lebende Monument von Biron (1996) sowie The Future Monument in Coventry (1999–2004) gehören international zu den meist zitierten Beispielen der partizipativen Kunst.

In den frühen Jahren seines Schaffens beschäftigt er sich mit konkreter und experimenteller Poesie, die Form der Dichtung, bei der die Bildhaftigkeit ein wesentliches Element der künstlerischen Konzeption darstellt. „Habe ich ein Bild vor mir, mache ich mir Wörter, und habe ich einen Text vor mir, mache ich mir ein Bild. Das Bild schafft den Mangel, der auf den Text verweist, und der Text bleibt undurchsichtig, um auf das Bild zurückzuweisen“2, erläutert Jochen Gerz aus der Perspektive des Betrachters sein Spiel mit der Erwartung und Nichterfüllung. 

Wie seine Texte nicht ohne Bilder auskommen, so seine Bilder nicht ohne Texte. Literatur, Fotografie, Video, Plastik und Performance verbinden sich zu einer Kunstform, die als Environment bezeichnet wird. So warf Gerz 1969 für sein Buch der Gesten etwa 5000 Textkarten vom Dach eines Hauses in der Heidelberger Innenstadt. Auf ihnen war zu lesen: „Wenn Sie diese Karte gefunden haben, so sind Sie Teil eines Buches, an dem ich seit langem schreibe. Ich möchte Sie daher bitten, den heutigen Nachmittag in Heidelberg so zu verbringen, als wäre nichts geschehen und durch diese Mitteilung Ihr Verhalten nicht beeinflussen zu lassen. Nur so kann es mir gelingen, das Buch zu Ende zu schreiben, das ich Ihnen, meiner wiedergefundenen Gegenwart, widmen möchte.“

Anke Hervol

 

1 Andreas Vowinckel, Die Abwesenheit der Anwesenheit, in: Jochen Gerz, Life after Humanism (Ausst.-Kat. Museum Weserburg Bremen), Ostfildern 1992, S. 20–26.
2 Jochen Gerz in: Ders., Wenn sie alleine waren Foto/Text und Video 1969 bis 1982, Göttingen 2002.

 

In der Ausstellung:

Jochen Gerz
Weiss, 1967 (6 St.)
Ausschnitte einer Collage (Letraset) auf Transparentpapier, Digitaldruck auf Papier
Je 14 × 20,2 cm
Gerz Studio, Sneem, Irland

 

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