Roman Opałka

Roman Opałka, Opałka 1965/1–∞

Das letzte Détail von Roman Opałka

„Wie ein Bergsteiger erklimme ich Stufe um Stufe die Steilwand eines hohen Berges, von dessen Gipfel aus ich einen unbegrenzten Horizont endloser Weiße zu entdecken hoffe. Ich möchte gern an diesen Ort gelangen, um dort für immer zu bleiben.“1

Beinahe fünf Jahrzehnte lang folgte Roman Opałka diesem Pfad, ausgehend von einer schwarzen Leinwand, einen Becher mit weißer Farbe in der Linken und einen Pinsel in der Rechten: „Bebend vor Aufregung angesichts der Verrücktheit eines solchen Unternehmens, tauchte ich den Pinsel in den Becher, hob langsam den Arm und brachte mit zitternder Hand oben links, ganz am Rand der Leinwand [...] die 1 als erstes Zeichen an.“2

1965 fasste Opałka den Entschluss, sein Leben einem einzigen großen Werk zu widmen: OPAŁKA 1965/1–∞. Zeile für Zeile, von links nach rechts und von oben nach unten fortschreitend, malte er die Zahlen 1 bis unendlich. Die Grundierung seiner stets das gleiche Format (196 x 135 cm) aufweisenden Leinwände hellte er von Détail zu Détail (so der Titel seiner einzelnen Bilder) um jeweils ein Prozent Weiß auf. 

Die Arbeiten Opałkas lassen sich auf zweierlei Weisen betrachten: einerseits als rein ästhetisches Phänomen, andererseits ausgehend vom Konzept, in ihrer geistigen Dimension. Unter ersterem Gesichtspunkt rückt Opałkas Werk in den Kontext der 1960er-Jahre, als Struktur und Monochromie gängige Gestaltungsprinzipien bildeten: Wie viele andere Künstler hatte auch Opałka den Antrieb, etwas ganz Neues zu entwickeln; auch er zog in Erwägung, die Malfläche des Objekts „Bild“ aufzugeben. 
Die Absage an eine darstellende Funktion, an klassische Kompositionsprinzipien im weitesten Sinne, und die hiermit verbundene Suche nach anonymen Methoden der Werkentstehung hatten zu einer vollkommen neuen Bildsprache geführt. Die Mehrzahl der Künstlerinnen und Künstler beschränkte sich auf eine einzige beziehungsweise wenige Farben, die sie zumeist mithilfe eines halbmechanischen, auf Wiederholung gleichmäßiger Bewegungen beruhenden Verfahrens auftrugen, bei dem die eigene Person weit in den Hintergrund trat. 

Die hieraus resultierende Organisationsform der Flächen ließ sich unter dem Begriff der Struktur oder dem Prinzip der Serialität fassen. Während sich eine Komposition durch Verschiedenheit und Hierarchie von Elementen auszeichnet, die ein statisches Ganzes ausbilden, kommt hier dem Einzelelement keine eigene Bedeutung zu; es ist auf sein Nachbarelement beziehungsweise auf die Struktur in ihrer Gesamtheit bezogen. Durch das regelmäßige Eintauchen des Pinsels in die weiße Farbe gliedern sich Opałkas Bildflächen über hellere und zunehmend dunkler werdende Elemente. Das hierdurch erzielte farbliche An- und Abschwellen verleiht den Werken etwas Dynamisches und Energetisches: Das Auge springt beim Betrachten zwischen den unterschiedliche Helligkeitswerte aufweisenden Elementen, sodass sich durch den schnellen Übergang zwischen den gering voneinander abweichenden Struktureinheiten Bewegungseindrücke ergeben. Die einzelnen Ziffern werden zu optisch aktiven Elementen: Die Zahlen, also Geformtes, bewusst Gestaltetes, treten hier gleichberechtigt neben den Bildgrund, das Dazwischen, das Schweigen und den Stillstand. In der Unendlichkeit kommt es schließlich zu einer gänzlichen Aufhebung des Denkens von Gegensätzen: Es gibt keine Grenze mehr zwischen künstlerischer Geste und Bildgrund, zurück bleibt das reine Weiß.

Die im Bild visualisierte Rhythmisierung, über die sich der Fluss der Zeit manifestiert, wird vor allem über die parallel zum Schaffen entstandenen Tonbandaufzeichnungen von Opałkas Stimme deutlich: Der Künstler spricht in seiner Muttersprache Polnisch jede einzelne von ihm gemalte Zahl.
Fand die Mehrheit der Künstlerinnen und Künstler, zunächst von der monochromen Fläche ausgehend, im Laufe der Zeit zur Strukturierung ihrer Bilder zurück, so gab Opałkas Konzept den umgekehrten Weg vor: Mit jeder neuen Leinwand näherte er sich – wohlbemerkt, rein optisch – der Monochromie an, ohne die Art und Weise seines Arbeitens zu verändern. Struktur und Monochromie sind bei Opałka also nicht als bewusste künstlerische Setzung aufzufassen, sondern als Konsequenz seines Werks, als Konsequenz des Voranschreitens der Zeit, seiner eigenen Lebenszeit. Anders als etwa bei Yves Klein, der als einer der Hauptvertreter der monochromen Malerei gelten kann, schließen Opałkas Arbeiten keine metaphysische Dimensionen ein, sondern verkörpern eine starke Rationalität. Von Nahem betrachtet lässt sich jede einzelne Ziffer erkennen, von der Ferne ist kaum zu erahnen, dass sich die Färbung der Bildfläche aus einzelnen Zahlenelementen zusammensetzt.

Auch im Werk Opałkas spielt, wie bei vielen anderen künstlerischen Konzepten der 1960er-Jahre, das Phänomen Immaterialität eine entscheidende Rolle: Das von Opałka intendierte Bild endet nicht dort, wo die Leinwand beziehungsweise die durch ihn gestaltete Substanz aufhört, sondern es setzt sich über die materiellen Grenzen hinaus fort. Auch seine Bilder sind keine „Endprodukte“, sondern offenbaren sich als Prozess: Jede einzelne Bildtafel ist Teil eines Ganzen mit offenem Ende.

Zentrales Thema ist die Visualisierung von Zeit: Opałkas Arbeiten ist geprägt von einer mit äußerster Disziplin betriebenen Routine, die eine am Ende eines jeden Arbeitstages angefertigte fotografische Selbstaufnahme in immer derselben, exakt kontrollierten Pose einschließt, mit der der Künstler die zeitbedingten physischen Veränderungen festzuhalten versucht. Das Ausklammern emotionaler Regungen, das typisch ist für seine Arbeitsweise, findet vor allem in diesen Fotografien seinen Ausdruck: der dramatischte Augenblick, so Opałka, sei der Todestag seines Vaters gewesen, da er gegen die Gefühle ankämpfen musste, um sich „dieser schrecklichen Aufnahme zu stellen“.3

Gerade weil Opałka sein künstlerisches Schaffen als eine aufs Engste an die eigene Lebenszeit geknüpfte Aufgabe ansah, konnte er auch im Alter, trotz gesundheitlicher Beschwerden, keine Unterbrechung zulassen: Leben definierte sich für ihn über die konzentrierte Fortsetzung der Zahlenreihen. Das Dasein fand seine Erfüllung in der Arbeit an einem einzigen großen Bild, an einem Werk, das auf einer originellen Eingebung beruhte, jedoch keinerlei Möglichkeiten zu kreativen Veränderungen in sich barg, sondern geprägt war von äußerster Konsequenz und Berechenbarkeit.

Der Verlauf der Zeit schlägt sich in den Bildern deutlich nieder: Immer blasser werden sie von Leinwand zu Leinwand, der Hintergrund und das von Opałka in mühsamer Kleinarbeit Geschaffene verschmelzen zur Einheit, die künstlerische Geste verfliegt im Unendlichen. Gerade die letzten Bilder spiegeln auf erschreckende Weise die hiermit für den Künstler verbundenen Qualen wider. In seiner letzten Schaffensperiode verschwinden die auf die Leinwand gesetzten Zahlen im Nichts, zurück bleibt die scheinbar monochrome Leinwand. Damit hatte sich Opałka seinem Ideal von einem letzten Bild „in Weiß in Weiß“ angenähert, das erreicht werden würde „in jenem Augenblick, der die Progression zum Stillstand bringt und einzig das Bild der Gegenwärtigkeit des Sichtbaren im Unsichtbaren bestehen läßt“.4

Was wollen die Bilder Opałkas vermitteln? Das Werk ist zwar untrennbar verbunden mit der Künstlerpersönlichkeit, jedoch ist der sich offenbarende starke Selbstbezug nicht vorrangiges Ziel. Opałkas Bilder sollen dazu anregen, sich die Dimension der Zeit ins Bewusstsein zu rufen: „Wie in einem Tagebuch kann in ihm jeder die Entwicklung seines eigenen Daseins lesen. Die Fotografien meines Gesichts sind das Bild des Lebens jedes einzelnen Betrachters.“5

Für Opałka spielte die Auseinandersetzung mit dem Tod eine zentrale Rolle, denn „um die Zeit zu erfassen, muß man den Tod als reale Dimension des Lebens begreifen. Die Existenz des Seins an sich ist noch nicht alles, sondern das Sein wird erst durch den Tod bestimmt, der ihm fehlt“.6 Sein Projekt, so bestimmte es der Künstler selbst, endet in seiner eigenen Unabgeschlossenheit.7
„Stünde der Ort zur Wahl“, so äußerte er selbst einmal, „würde ein jeder es sich wünschen, zu Hause zu sterben: was mich betrifft, ist es nur weise, mich von langen Reisen fernzuhalten oder – falls dies nicht möglich ist – zumindest die Leinwand auf der Staffelei ständig ‚offen‘ zu halten, offen wie das Leben, bereit, mich durch den Tod der Wette der durch Unvollendung definierten Vollendung zu stellen.“ Sein letztes Bild, an dem er bis kurz vor seinem Tod arbeitete, markiert den Endpunkt des Wettlaufs mit der Zeit, der eigenen Lebenszeit, mit der Unendlichkeit.8

Mit der Zahl 5 607 249 fand im August 2011 Opałkas Wanderung ins Unendliche ihre Vollendung.

Ulrike Schmitt-Voigts

 

1 Roman Opałka, Anti-Sisyphos, Ostfildern 1994, S. 68, fortan Opałka 1994.
2 Opałka 1994, S. 18.
3 Opałka 1994, S. 168.
4 Opałka 1994, S. 7.
5 Opałka 1994, S. 169.
6 Opałka 1994, S. 175. 
7 Opałka 1994, S. 68.
8 Das inzwischen in die Sammlung von Anna und Gerhard Lenz eingegliederte Bild zeigt, wie weit dieser Marathon führte.

 

In der Ausstellung:

Roman Opałka
1965/1–∞; Détail 5 603 154–5 607 249, o. J.
Acryl auf Leinwand, hinter Plexiglas
196 x 135 cm
Sammlung Lenz, Österreich

Roman Opałka
Selbstporträt, o.J.
Schwarz-Weiß-Fotografie
33 x 24 cm
Sammlung Lenz, Österreich